Donnerstag, 16. August 2012

Beinahe so etwas, wie eine Behinderung

Da besucht ein infolge einer schweren Muskelerkrankung behinderter Mensch mit seiner Assistentin die Filiale einer Hamburger Sparkasse, in der er seit Jahren Kunde ist. Hinter seinem Rücken beschwert sich eine Sparkassenangestellte bei seiner Assistentin darüber, dass er manchmal auch ohne sie mit dem Rollstuhl in die Filiale fährt.

Aufgrund seiner eingeschränkten Motorik fällt es ihm sehr schwer, Formulare zu unterschreiben, so dass er dabei die Unterstützung des Sparkassenpersonals benötigt. Wie die Sparkassenangestellte seiner Assistentin mitteilte, sei das ihren Kollegen und ihr selbst nicht zuzumuten, da dasSparkassenpersonal großen Ekel vor seiner Behinderung empfände. Für seine Assistentin sei das wohl nicht so schlimm. Schließlich habe diese sich "so einen Beruf" ja selbst ausgesucht ...

Ich finde das Verhalten des Personals der Sparkasse einfach nur widerlich. Aufmerksam bin ich auf diesen skandalösen Vorfall durch einen Artikel von Frau Momo geworden. Ich habe daraufhin den Beitrag in "gerlefs blog" durchgelesen und bin bestürzt darüber, dass so etwas in der heutigen, "aufgeklärten" Zeit noch möglich ist.

Der eigentliche Skandal ist jedoch, dass es erst einer "Ausbildung" der Sparkassenangestellten bedarf, damit diese lernen, menschlich mit ihren behinderten Mitmenschen umgehen. Nach Feierabend steht es ihnen dann aber wieder frei, ihrem Ekel gegenüber Menschen, die nicht ihren irrealen Verständnis von Normalität entsprechen, freien Lauf zu lassen.

Nein, mit einem simplen Seminar à la "Wie verstelle ich mich glaubwürdig gegenüber Krüppeln" ist diesem Problem mit Sicherheit nicht beizukommen. Dafür wäre eine Eingliederung behinderter Menschen in alle Bereiche unserer Gesellschaft und ein selbsverständliches alltägliches Miteinander notwendig. Bis das aber eines Tages vielleicht Wirklichkeit geworden sein könnte, sollten sich Menschen, zu deren Arbeitsalltag der Umgang mit anderen Menschen gehört, "so einen Beruf" nicht aussuchen, wenn sie sich vor dem Kontakt mit ihren behinderten Mitmenschen ekeln.

Ich habe als Jugendlicher einmal mit behinderten Jugenlichen aus meiner Heimatstadt einen Urlaub in Dänemark verbringen dürfen. Für mehrere Tage haben wir auf mehrere Fereinäuser verteilt mit - je nach Grad ihrer Behinderung - ein bis zwei behinderten Jugendlichen gemeinsam unter einem Dach gelebt, haben zusammen eingekauft, gekocht und haben unseren spastisch gelähmten Kameraden im Rollstuhl an den Strand und durch die Dünen geschoben.

Wir haben uns oft und lange über alles Mögliche mit ihm unterhalten - lange unter anderem auch deshalb, weil er aufgrund seiner Krankheit nicht so schnell und nicht sehr deutlich sprechen konnte. Aber wir hatten ja Zeit. Beim Umgang mit diesen ganz besonderen Menschen lernt man bald, dass zu einem Gespräch vor allem auch das Zuhören dazugehört.

Und wir haben ihn bei all seinen alltäglichen Verrichtungen zwischen "morgens aufstehen" und "abends zu Bett gehen" unterstützt, die für gesunde Menschen selbstverständlich sind. Seidem nehme ich vieles nicht mehr einfach so als selbstverständlich hin. Für diese Erfahrung bin ich heute noch dankbar - und ich bin froh, dass ich das Glück habe, gesund geboren und - zumindest bisher - gesund geblieben zu sein.

Auch wenn mich das Verhalten der Sparkassenangestellten anwidert, empfinde ich irgendwie doch so etwas wie Mitleid für sie. Ob sie es nun einmal verloren haben, oder ob es nie ein Teil ihrer Identität war: Auf jeden Fall fehlt ihnen ein wichtiges Stück von ihrer Menschlichkeit ... - und vielleicht ist das ja auch beinahe so etwas, wie eine Behinderung.


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