Mittwoch, 27. Februar 2013

Eine kleine Balkon-Geschichte

Einer der ersten Wohnblöcke in Leherheide-West ...
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag der größte Teil der Stadt Bremerhaven (bis 1947 noch Wesermünde) in Trümmern. In den darauffolgenden Jahren herrschte bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein große Wohnungsnot.

Meine Mutter erzählt, dass es schon ein Glücksfall war, dass meine Eltern bald nach ihrer Hochzeit in die kleine Mansardenwohnung im Bremerhavener Stadtteil Lehe einziehen konnten. Da sie nur zu zweit waren, hätte ihnen eigentlich nur ein Zimmer zur Untermiete oder bestenfalls eine Einzimmerwohnung zugestanden. In ihrem kleinen Reich in der Hafenstraße gab es ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Sogar die Toilette war innerhalb der Wohnung vom Flur aus zugängig. Als dann jedoch meine Schwester geboren wurde, war die Wohnung endgültig zu klein für uns vier geworden.

Als die Gewoba gerade die ersten sechs Häuser im heutigen Leherheide-West fertiggestellt hatte, zogen meine Eltern mit uns in einen dieser schicken, neuen Wohnblöcke im Surhörenweg (heute Kurt-Schumacher-Straße) im Stadtteil Leherheide. Mit dem Umzug in die neue Wohnung endete für meine Mutter die Ära der Kohlenschlepperei. Man brauchte nur noch am Ventil der Heizkörper zu drehen, um in jedem Zimmer die passende Temperatur einzustellen.


... mit einem "großen Balkon für jede Wohnung".
Für uns Kinder war es ein Umzug in die große Freiheit. Ohne Angst davor haben zu müssen, dass wir von einem Auto überfahren werden könnten, konnten meine Eltern uns draußen auf den Wiesen in der Umgebung des Hauses spielen lassen. Und bei schlechtem Wetter hatten wir jetzt ein Kinderzimmer, in dem wir spielen konnten.

Zur neuen Wohnung gehörte sogar ein großer Balkon, der zur neuen "großen Freiheit" meiner Eltern wurde. Nach der gewohnten Enge in der alten Mansardenwohnung, war der Balkon für sie so etwas wie das "vierte Zimmer". Jederzeit konnten meine Eltern jetzt draußen an der frischen Luft sitzen: Wiesenduft statt Abgasluft.

In der Blütezeit der Wirtschaftswunderjahre reihten sich die "etwas betuchteren Leute" mit ihren Käfern, Motorrollern, Isettas, Messerschmitt-Kabinenrollern oder Goggomobils in die gen Italien strömenden Urlaubskarawanen ein. Wie man hört, soll das damals noch ein echtes Abenteuer gewesen sein. Bei anderen Urlaubern ging es entspannter zu. Sofern sie das Glück hatten, einen Balkon zu besitzen, war damals bei den Leuten, die jede Mark noch dreimal umdrehten, bevor sie sich entschlossen, sie auszugeben, "Urlaub in Balkonien" das Größte ...


Bauklotzarchitektur im Leher Gründerzeitviertel
Die uniforme Architektur der Wohnblöcke, die Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, vornehmlich in den Neubaugebieten an den Stadträndern, ihren Anfang nahm, und ihren Höhepunkt in der "Plattenbau-Kultur" der siebziger, achtziger Jahre einen Höhepunkt erreichte, ergibt an den Stadträndern insgesamt ein städtebauliches Gesamtbild. Sie hinterließ leider aber auch in den Kriegs- und Abrisslücken der Innenstädte ihre weniger schönen Spuren.

Im gründerzeitlich geprägten Goethe-Quartier des Bremerhavener Stadtteils Lehe, mit seinen repräsentativen Schmuckfassaden, wirken solche Lückenfüller, wie beispielsweise dieser Neubau in der Uhlandstraße, wie hässliche Fremdkörper. Das einzige, möglicherweise als "repräsentativ" zu bezeichnende Element an der ansonsten "platten" Fassade sind hier - zumindest in den oberen drei Etagen - die zur Straßenseite hin ausgerichtete Balkons. Möglicherweise empfand der Architekt den Blick vom Balkon auf die Gründerzeitfassaden der gegenüberliegenden Häuser ästhetischer, als den Blick in die Hinterhöfe, über denen ja angeblich noch immer der "Muff alter Zeiten" schweben soll. Allerdings widerlegt der Anblick des Gebäudes in dieser Umgebung eindeutig die Annahme, dass Ästhetik beim Entwurf und bei der Erteilung der Baugenehmigung eventuell eine Rolle gespielt haben könnte.


"Balkonklos" mit Südsee-Flair
Lange bevor Balkons in der Mitte des letzten Jahrhunderts bei Neubauten als neuer Aufenthaltsort für Freizeitaktivitäten in Mode kamen, erfüllten sie jedoch vorrangig einen völlig anderen Zweck. Sehr schön zu sehen ist das an der Rückseites dieses Gebäudes in der Potsdamer Straße aus dem Jahre 1892.

Zu der Zeit, als in den Städten um die Jahrhundertwende vom neuzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert die ersten größeren Gründerzeithäuser entstanden, steckte die Sanitärtechnik noch in den Kinderschuhen. Die Orte, die jeder Mensch zwangsläufig mehrmals täglich zur Erledigung seiner kleinen oder großen Geschäfte aufsuchen muss, waren daher in der Regel Quellen unangenehmer Düfte.

Kein Mensch wäre deshalb damals auf die absurde Idee gekommen, innerhalb der Wohnung eine Toilette einzubauen. Diese wurden, räumlich von der Wohnung getrennt, in Anbauten außen an den Rückseiten der Häuser installiert. Der Weg aus der Wohnung zur Toilette führte, wie oben auf dem Foto sehr schön zu sehen ist, über den Balkon. Ich glaube, heute wird kaum noch jemand wirklich nachvollziehen können, dass es für die Menschen damals selbstverständlich war, wenn sie sich - auch in frostigen Winternächten - aus dem warmen Bett kommend, hinaus aus der Wohnung, auf den Weg über den Balkon machten, wenn sie mal müssen mussten.

Die "stillen Örtchen" von damals sind heute natürlich nicht mehr in Betrieb. Im Zuge von Renovierungsarbeiten wurden diese, mit moderner Sanitärtechnik ausgestattet, ins innere der Wohnungen verlegt - und auf den ehemaligen Zweck-Balkons aus der "guten, alten Zeit" wird heutzutage an warmen Sommertagen die sonntägliche Kaffeerunde auch schon mal im Freien zelebiert.


Die alten Balkons an der Rückseite eines Gründerzeithauses in der Uhlandstraße ...
An einigen der alten Balkons sind die vielen Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Wenn das in die tragenden Wände der Gebäude eingelassene Stahlträgerwerk aufgrund eindringender Feuchtigkeit irgendwann verrottet, drohen sie über kurz oder lang abzustürzen. Daher findet man heute viele alte Häuser, deren Balkons von externen Stahlkonstruktionen gestützt werden.


... wurden im Zuge von Renovierungsarbeiten des Gebäudes durch neue ersetzt.
In Falle dieses Hauses wurden die alten Innenhof-Balkons später abgebrochen und durch neue, größere Ständerbalkons ersetzt. Am Beispiel dieser Gebäude ist außerdem sehr schön zu sehen, dass selbst die zu den Innenhöfen gerichteteten Rückseiten der alten Häuser nicht zwangsläufig hässlich und ungepflegt aussehen müssen ...
... und ein weiteres Beispiel aus dem gleichen Hinterhof zeigt, dass auch aus einem um 1904 errichteten Gebäude mit neuen Ständerbalkons, einem angebautem Aufzug, sowie weiteren modernen Ausstattungsmerkmalen, ein komfortables Schmuckstück entstehen kann.



"Hinterhof" geht auch anders (zum Vergrößern bitte auf die Fotos klicken ...)

Diese kleine Zusammenstellung von Fotos aus einem Hinterhofgarten im Leher Goethe-Quartier könnte ebenfalls dabei helfen, das Vorurteil bezüglich des "Muffs aus alten Zeiten" zu entkräften. Darüber hinaus gibt es viele weitere schöne Beispiele für die Gestaltung von Innenhöfen in Gründerzeit-Quartieren, wie beispielsweise die "Kunsthofpassage", ein für die Öffentlichkeit zugänglich gemachter Hinterhof in der Dresdener Neustadt.

Auf dem Foto links oben ist rechts neben den teilverglasten Balkons wieder der typische Anbau für die ehemaligen Toiletten zu sehen. Allerdings mussten die Bewohner des Ende der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts fertiggestellten Hauses nicht mehr über den Balkon gehen, um dort hin zu gelangen. Die Toiletten waren vom Treppenhaus aus zugänglich und lagen versetzt zu den Etagen in Höhe der Zwischenabsätze der Treppen. Die Bewohner von zwei Etagen teilten sich jeweils eine Toilette. Somit waren die "zwecklosen" Balkons dieses Hauses damals eigentlich der pure Luxus.


(Quellen: Landesamt für Denkmalpflege Bremen, Kunsthof Dresden, Haus der Geschichte, Lebens(t)raum, Wikipedia)

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Jürgen, DANKE....ein sehr ausführlicher Bericht über die Leher Bolkongeschichte.
Tolle Recherche.
Gruß
Heiko

Hermann hat gesagt…

Hallo Jürgen,
so schön kann Lehe sein. Oder war Lehe so schön. Es wäre wirklich wünschenswert, wenn nicht alles, was alt ist, abgerissen wird. Wenn vieles erhalten bleibt.

Die Probleme, die Bremerhaven mit der Abrissmentalität einiger Politiker und/oder Eigentümer hat, gibt es auch andernorts. So schreibt der Görlitzer Historiker Dr. Ernst Kretzschmar in seinem Vorwort zur Ausgabe 82 der StadtBILD vom April 2010 folgendes:
"Es grummelt in vielen Städten und Dörfern. Nicht nur Dorfkirchen verfallen, rtskerne veröden und Schloßruinen sind einsturzgefährdet. In einst schmucken Kleinstädten sind ganze Straßenzüge leergezogen, die Abrißbirne droht. Junge Leute verschwinden in die Großstädte oder westwärts. Gut gelaunte Globalisierer mit amerikanischem Akzent sagen voraus, dass im Osten ein riesiger Naturschutzpark Touristen anlocken wird, um romantische Ruinen zu bestaunen. Derweil werden in Großstädten zwischen "Frankfört" und "Börlinn" die historischen Zentren mit Einkaufswürfeln und Bürotürmen aus Beton, Stahl und Glas verschandelt. Dieser kulturelle Tsunami erreicht auch Görlitz...[...]...Inzwischen sind kaum noch Görlitzer da, die unsere Stadt vor dem Kriege oder bald danach gekannt und mitgestaltet haben. Bald wird niemand mehr aus eigener Kenntnis und Prägung jener wurzellosen Schickeria entgegentreten können, die den Entscheidungsträgern schon manchen baulichen Allerweltsmüll aufgeschwatzt hat. Zuspruch und Ermutigung finden jene Architekten und Hauseigentümer, die nicht nur im Altstadtkern sondern auch in den von der Gründerzeit und Jugendstil geprägten Bereichen sachkundig und maßvoll Gebäude und Platzanlagen sanierten. Überall zwischen Köln, Hamburg, Berlin, Potsdam und Dresden formiert sich Widerstand gegen eine zügellose, nur profitorientierte [...] Überfremdung der Stadtzentren.Die Görlitzer sind aufgefordert, das Baugeschehen nicht nur einer winzigen Minderheit zu überlassen. Nötig ist ein besonnener, sachkundiger, partnerschaftlicher und fruchtbringender Meinungsaustausch mündiger Bürger."

Jürgen, Du siehst, ob hier im Westen oder in Görlitz im äußersten Osten Deutschlands, es sind überall die gleichen Probleme. Oder was meinst Du dazu?

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